Bloss noch Langweiler? Eine Analyse zur Entwicklung des MTB-Sports
Die druckfrische Print-Ausgabe von Ride (N°93) enthält eine umfangreiche Reportage über die Entwicklung des Mountainbikesports aus Sicht der kommerziellen Tourenanbieter. Die Kernbotschaft des Artikels lautet: Aus den Abenteurern der Anfangsjahre sind motorisierte Langweiler mit mangelnder Fahrtechnik geworden. Das klingt zugespitzt und fatalistisch, mag aber aus der Perspektive der Reiseanbieter zutreffen. Die Analyse ist jedoch durch den Fokus auf die Reiseanbieter einseitig und spiegelt kein umfassendes Bild der gesamten Sportart. Es gibt gleichzeitig Indizien, die andere Schlussfolgerungen zulassen.
Indiz 1: Stabilere Mountainbikes
In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass Mountainbikes entgegen früherer Trends nicht leichter, sondern schwerer werden. Der Grund: Die Hersteller müssen ihre Bikes immer stabiler bauen, da der Einsatz deutlich härter geworden ist. Selbst Allmountain-Modelle müssen heute Sprünge und enorme Seitenkräfte aushalten. Das zeigt, dass die durchschnittliche Fahrtechnik offensichtlich zunimmt.
Indiz 2: Technologie kompensiert Fahrtechnik
In der Entwicklung der MTB-Technologie gab es in den letzten Jahren klare Tendenzen: aufrechtere Sitzpositionen, tiefere Tretlager, breitere Lenker, dickere Reifen, mehr Federweg und niedrigerer Reifendruck. Diese Technologien ermöglichen eine sicherere Fahrweise insbesondere in anspruchsvollem Gelände. Das bedeutet, dass heute auch durchschnittliche Mountainbiker Trails bewältigen können, die früher nur von Freaks befahren wurden.
Indiz 3: Die Jugend
Kinder fahren heute schon mit Laufrädern durchs Gelände, und Stützräder sind längst ausgestorben. Als Jugendliche shredden sie in Bikeparks. Das bedeutet, die nächste Generation an Mountainbikern bringt ganz andere Voraussetzungen mit. Das ist bereits erkennbar: Die «neuen» Mountainbiker fliegen förmlich über Trails. Sie kämpfen nicht mit den Trails, sie spielen mit ihnen. Auch hier zeigt sich, dass die Fahrtechnik deutlich gestiegen ist.
Fazit: Fahrtechnik und neue Trends
Die Fahrtechnik der Mountainbiker ist nicht etwa gesunken – sie hat sich sogar deutlich verbessert. Was sich jedoch verändert hat, ist die Breite des Sports: Corona und der Elektroantrieb haben den Mountainbikesport für eine grössere Zielgruppe geöffnet. Der Anteil an Anfängern und Gelegenheitssportlern ist gestiegen, und dieses Segment wird oft von Reiseanbietern bedient. Ihre Einschätzung spiegelt also diese Entwicklung, lässt jedoch keinen allgemeinen Rückschluss auf den gesamten Sport zu.
Gesellschaftliche Trends im Mountainbikesport
Zwei gesellschaftliche Trends sind aktuell im Mountainbikesport deutlich zu erkennen: Bequemlichkeit und Selbstoptimierung. Bequemlichkeit, oder «Convenience», bedeutet, dass alles einfach und reibungslos funktionieren muss. Shuttles hoch, ausgebauter Trail runter, keine Überraschungen. Das Abenteuer-Flair hat in den letzten Jahren nachgelassen. Dies passt zum Trend der Selbstoptimierung: Der Trail soll Spass machen und flowig sein, Schotterstrassen werden gemieden, und die Schinderei aus Selbstzweck ist nicht mehr gefragt. Deshalb sind die einst populären Transalp-Touren oder Klassiker wie der Tremalzo am Gardasee heute fast bedeutungslos. Stattdessen sind Kurztrips mit organisiertem Gepäcktransport und eine geschickte Auswahl der besten Trails einer Region interessanter. Aus dieser Perspektive hat sich der Mountainbikesport in den letzten Jahren spürbar verändert.
Vier Trends im Mountainbikesport
Die Sichtweise der Reiseanbieter aus der Printreportage mag aus deren Perspektive korrekt sein, ist jedoch für die Sportart insgesamt wenig relevant. In der gesamten Mountainbike-Welt zeigen sich vielmehr diese vier grossen Trends:
- Fahrtechnik: Schwierige und hochalpine Trails sind allgemein zugänglicher geworden. Immer mehr Mountainbiker bewältigen anspruchsvollere Strecken.
- Diversität: Der Mountainbikesport war schon immer breit aufgestellt, aber die Bandbreite hat sich weiter vergrössert.
- Bequemlichkeit: Der Sport wird zunehmend zu einem Konsumgut, bei dem alles perfekt passen muss. Abenteuer und Überraschungen sind weniger gefragt.
- Optimierung: Der Spassfaktor wird immer wichtiger. Das Verhältnis von Aufwand und Ertrag steht im Vordergrund.
Die ausführliche Hintergrundreportage von Ride-Autor Steffen Kanduth zur Perspektive der Reiseanbieter bietet eine interessante, aber gegenläufige Sichtweise und ist in der September-Ausgabe von Ride (N°93) zu finden. Wer recht behält und wo die effektive Zukunft liegt – die nächsten Jahre werden es zeigen.
Weitere Blog-Beiträge von Thomas Giger